Content is King. But There Has Been a Revolution.

CC_by_nc_sa Leo Reynolds
Foto: Leo Reynolds (CC by nc sa)

Man muss schon weit zurückgehen, bis in das Jahr 1996, um den vermutlichen Ursprung von „Content is King“ zu finden. Es war (Überraschung!) Bill Gates, der in einem Artikel schrieb: „Content is where I expect much of the real money will be made on the Internet…”.
Im ursprünglichen Sinn verwendet, stimmt der Satz nach wie vor. Nicht nur Geld wird auch heute vor allem mit guten Inhalten verdient, auch in anderen Bereichen,etwa der Bildung, bestimmen die Inhalte über die Nutzung eines Online-Angebotes. Aber Content allein ist nicht alles.

Denn seit 1996, also zwei Jahre vor Google und fünf Jahre vor der Wikipedia, haben wir es mit einer regelrechten Content-Explosion zu tun. Es gibt verschiedene Zahlen über das, was derzeit in einer Minute im Internet passiert. Eine gute Schätzung beispielsweise für Youtube (gegründet 2005) lautet, dass heute pro Minute beliebige Videoinhalte im Umfang von mehr als 100 Stunden veröffentlicht werden. Und es sind längst nicht nur der berüchtigte „Katzen-Content“ oder die illegalen Musik-Videos. Die gibt es freilich nach wie vor, aber unter den 100 Stunden Material pro Minute finden sich in einem extrem steigenden Umfang auch hochwertige Lernvideos. Sucht man beispielsweise bei Youtube nach „Gauß-Algorithmus“ erhält man 3060 Treffer, von denen immerhin noch Video Nummer 400 der Trefferliste in einem Übungsvideo ausführlich das umgekehrte Potenzieren erläutert.

Es ist wie mit der Google-Suchmaschine, die bei „Luhmann Systemtheorie“ 175.000 Ergebnisse ankündigt, von denen wir in der Regel ohnehin nur die ersten zehn wirklich benötigen. Oder wir nutzen gleich eine spezielle Suchmaschine, suchen gleich in Datenbanken oder digitalen Büchern, grenzen die Veröffentlichungszeiten ein, die Dokumentenart usw. Aber es wird nicht wirklich helfen. Wir drohen in Content zu ersticken.
Eine ähnliche Entwicklung gab es vor Jahrzehnten auf dem Buchmarkt oder bei den Zeitschriften. Damals half es, sich an Autoren und Verlage oder Bibliotheken zu orientieren, an die „Gatekeeper“ eines überbordenden Angebotes, die (so hofften wir) die Spreu vom Weizen trennten. Wer sind heute die Torwächter? Gibt es mit Blick auf 100 Stunden neuer Youtube-Videos pro Minute überhaupt eine Alternative zu automatischen Sortier-Algorithmen wie die der Google-Suchmaschine, von denen wir hoffen, dass sie nach „Relevanz“ sortieren? Aber vermutlich nie nach „didaktisch wertvoll“?
Natürlich hat es das auch schon vorher gegeben, alle Mathematiklehrer haben zu Tausenden an den Schulen die Gauß‘schen Lösungsschritte ihren Schülern individuell erläutert. Erst mit Youtube wird einem schlagartig klar, dass es (fast) immer das gleiche ist. Fast, denn natürlich gibt es hilfreiche und weniger hilfreiche Anleitungen. Aber wer entscheidet darüber? Die Hoffnung, dass der „Gefällt-mir-Button“ die Spreu vom Weizen trennt, ist naiv. Denn ein Video unter den ersten 10 Suchergebnissen (wie auch immer es dorthin gekommen ist) hat in der Beliebtheit weitaus größere Chancen, als das womöglich didaktisch wertvollere von Platz 200+ (wo es statistisch gesehen auch bleiben wird).

Auf der Suche nach den Torwächtern von Bildungsinhalten fällt der Blick rasch auf die Hochschulen, die inzwischen selbst Vorlesungsaufzeichnungen zur Verfügung stellen (wenn auch die wenigsten öffentlich), daraus kleinere Lerneinheiten produzieren, diese mit Tests und Übungsaufgaben versehen und auf den (vor allem aus Urheberrechtsgründen intern geschlossenen) Lernplattformen ihren Studierenden zur Verfügung stellen. Hier gilt trotz Internet weitgehend noch das System aus der Vor-Internet-Zeit: Bildung als geschlossene und individuelle Veranstaltung, der Lehrstuhlinhaber als Auswählender zur Empfehlung von Inhalten (Bücher, Artikel, Lerneinheiten, Prüfungen) und zugleich als didaktischer Vermittler. Ist dieses System überholt?
MOOC’s haben dieses Prinzip scheinbar radikal in Frage gestellt. Extrem teure E-Vorlesungen herausragender Wissenschaftler stehen plötzlich kostenfrei zur Verfügung und treten in Konkurrenz zur Einführungsvorlesung gleicher Thematik an einer beliebigen Hochschule. Würde man Bildung darauf reduzieren – die meisten Hochschulen könnten schließen (was noch vor kurzem einige Protagonisten behauptet hatten). Bei genauer Betrachtung wurde allerdings schnell deutlich, dass es nicht die aufwändige Videoproduktion allein ist, die über den Lernerfolg, also beispielsweise einen erfolgreichen Abschluss eines MOOC’s, entscheidet, sondern hinzu kommen (rudimentäre) Betreuung, (ungenügende) alternative Lernaktivitäten auf der MOOC-Plattform und (fehlende) Verbindlichkeit und Anerkennung des Angebotes.

Aber was kann die Inflation herausragender Lerninhalte für die Hochschullehre bedeuten? Alles – und nichts. Wie im Vor-Internet-Zeitalter müssen Lehrende auch heute ihren Studierenden als „Gatekeeper“ Bildungsinhalte empfehlen, nur kommen zu den gedruckten Medien der Bücher, Artikel und Aufsätze jetzt digitale Inhalte hinzu. Im Zweifel auch die Einführungsvorlesung zur Wirtschaftsgeschichte durch einen Harvard-Professors als Ersatz für die eigene. Warum hierzu nicht die Lehrverpflichtungsverordnungen anpassen? Und natürlich auch die Studienordnungen? Warum mutet man den Studierenden das Lesen eines Buches im Selbststudium zu, nicht aber das Einführungsvideo zur Statistik in der Medizin aus Stanford? Oder gleich den gesamten Kurs dazu?  Was hindert Hochschulen daran, aus der klassischen Vorlesung-Seminar-Übungs-Variante ein „Flipped Classroom-Modell“ zu entwickeln? Ist es die Angst, sich womöglich selbst abzuschaffen?

Aber zur Panik besteht kein Anlass. Sicherlich, ob es einem gefällt oder nicht – die Bildungseinrichtungen steuern auf einen Wandel zu. Aber es ist kein radikaler Wandel, denn Bildung bleibt am Ende ein individueller Vorgang, der einen hohen Betreuungsaufwand verlangt und dieser ist nicht kostenfrei zu haben. Im Gegenteil, hier liegen die wahren (und nicht wegrationalisierbaren) Aufwände und damit im Kern die eindeutige Berechtigung von Präsenzhochschulen. Aber es wird ein Wandel der Verwendung von Lerninhalten stattfinden, da sich deren Verfügbarkeit gerade extrem verändert. Und dies wird Lehre, wie wir sie kennen, beeinflussen. Denn digital verfügbare Lerninhalte eröffnen gerade wegen ihrer flexiblen Verfügbarkeit neue Perspektiven des individuellen Lernens, etwa durch eine zielgenaue Verknüpfung individueller Kompetenzniveaus von Studierenden mit entsprechend sinnvollen Lerninhalten. Adaptives Prüfen zur Ermittlung von Kompetenzstufen könnte mit entsprechend passenden Lernobjekten verknüpft werden. Allerdings hier verstanden als Ergänzung der individuellen Betreuung durch Lehrende, nicht als deren Ersatz, denn derartige Lernräume müssen auch erst einmal geschaffen und stets aktualisiert werden – von den Hochschullehrenden. Von wem auch sonst?
Digitale Lerninhalte zielgerichtet für das Lehren und Lernen einzusetzen ist die wahre Herausforderung. Und sie belässt im Übrigen den Lehrenden an der Stelle, die er nicht zuletzt mit Blick auf die Hattie-Studie „Visible Learning“ stets innehatte, nämlich als letztlich entscheidende Größe für den Lernerfolg.

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